Wednesday, 6 December 2006

7: Children Need Music (Deutsche)

7: Children Need Music (Deutsche)

Wilfried Gruhn

Emeritus Professor, Musikhochschule Freiburg,

Germany


  1. Aus neurobiologischer Sicht sind die ersten Jahre von besonderer Wichtigkeit für die Ausreifung und synaptische Vernetzung ("Verdrahtung") des Gehirns. Die volkstümliche Redensart "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" spricht diesen Sachverhalt vereinfacht an.

  2. Allerdings muß vor einem Mißverständnis gewarnt werden (vgl. John Bruer: The Myth of the First Three Years, 1999). Es ist zum Glück nicht so, daß Hans nichts mehr lernen kann. Der Mensch ist immer zum Lernen fähig, man kann gar nicht "nicht" lernen. Grundsätzlich bleibt das Gehirn bis ins Erwachsenenalter strukturell formbar. Allerdings ist das kindliche Gehirn in viel stärkerem Maße "plastisch" veränderbar als das ausgereifte, so daß Lernen in diesem Lebensabschnitt – wie jeder weiß – viel leichter fällt. Alle zentralen, lebensnotwenigen Lernvorgänge (z.B. aufrechter Gang, Körperkoordination, Sprechen, abstraktes Denken etc.) finden daher in den ersten Lebensjahren statt.

  3. Lernen beruht auf der plastischen Veränderbarkeit des Gehirn. Wir wissen, daß die Plastizität zwar in den ersten Lebensjahren am größten ist, aber das ganze Leben erhalten bleibt. Humanbiologisch, pädagogisch und ethisch kommt daher den Erziehungsbemühungen in den ersten Jahren eine ganz besondere Bedeutung zu. Familie, Kindergarten und Grundschule sind hier die entscheidenden Agenten der Vermittlung von Erfahrung, Wissen und Können.

  4. Die Ausreifung des Gehirns folgt in seiner Grundstruktur genetischen Dispositionen, ist im einzelnen aber in seiner individuellen Ausprägung nutzungsabhängig. Unser Gehirn wird so, wie wir es benutzen! Alle Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben macht, werden in seinem Gehirn verankert.

  5. Neueste Erkenntnisse der neurobiologischen Verhaltensforschung haben im Tierversuch (Ratten) ergeben, daß emotionale Vernachlässigung und deprivierte soziale Bindungen das Gehirn in seinen Tiefenstrukturen (limbisches System, Amygdala) nachweisbar verändern. Dies hat einen Boom der "Neurodidaktik" ausgelöst, weil man vermutet, daß analoge Auswirkungen auch beim Menschen erwartet werden dürfen (z.B. hyperaktive Kinder, Aufmersamkeitsdefizit Syndrom).

  6. Daraus ergibt sich die sozial- und bildungspolitische Forderung, die Familien zu stärken, damit Kinder emotionale Bindungen aufbauen können. Horte und Kindergärten können diese Funktion nicht ersetzen, aber Impulse und Anregungen für die intellektuelle Entwicklung geben.

  7. Der Musik kommt in dieser frühen Entwicklungsphase eine wichtige Bedeutung zu. Wie kaum eine andere Tätigkeit intensivieren musikalische Erfahrung das rhythmische System im biologischen Bildungsprozeß. Die Erschließung von Zeit und Raum beginnt bei Kindern mit der Erfahrung von Gewicht und Bewegungsfluß, während Erwachsene die Dimension von Raum und Zeit zählend und messend erfassen (Laban, Gordon). Musik stimuliert und verstärkt vitale rhythmische Prozesse. Kinder haben daher auch ein offenkundiges Bedürfnis nach rhythmischer Wiederholung.

  8. Musikalische Tätigkeiten vernetzen viele verschiedene neuronale Areale und erfordern hohe feinmotorische Koordinationsleistungen. Nicht weil nach populärer (aber so allgemein nicht zutreffender) Sicht Musik in der rechten Hemisphäre lokalisiert ist und daher besonders diese als Gegengewicht zur linken Hemisphäre fördert, sondern weil Musik eine dichtere Vernetzung verschiedener Areale und stärkere Kohärenzen hervorruft, bildet sie ein vorzügliches Medium für ein kortikales Training. Zu diesem Zweck kann Musik erfolgreich beim Hörtraining von Cochlea Implant Kindern eingesetzt werden.

  9. Die musikalische Begabungsforschung hat gezeigt, daß jeder Mensch mit einem bestimmten Begabungs- (d.h. Lern)potential geboren wird, das bei Geburt am größten ist und danach kontinuierlich abnimmt, wenn es nicht durch Umweltreize und informelle Lernangebote (Hörangebote) immer wieder angeregt wird. Denn das Gehirn ist wie ein Spiegel der gemachten Erfahrungen; ohne musikalische Anregungen können sich keine musikalischen Repräsentationen bilden!

  10. Jeder Mensch besitzt einen bestimmten Grad an musikalischer Sensibilität. In den frühen Jahren vermag ein Kind daher mühelos, Musik wie eine Sprache zu erlernen, und zwar nicht von der Grammatik und der Theorie her (knowing about), sondern als praktisches Handlungswissen (knowing how). Das vitale, natürliche Bedürfnis des Menschen nach rhythmisiertem Klang begründet und erleichtert den Zugang zur Musik als einem elementaren Ausdrucks- und Kommunikationsmittel.

  11. Vor diesem Hintergrund kommt einer internationalen Dachorganisation wie der ISME eine besondere Bedeutung und Verantwortung zu, weil hier auf übergeordneter Ebene die Bemühungen und Anstrengungen zusammengefaßt sind, allen Menschen eine musikalische Ausbildung im Rahmen der je eigenen Kultur zu ermöglichen. Begegnung und Austausch zwischen den Kulturen stellt eine entscheidende Herausforderung unserer Zeit für ein friedliches Zusammenleben der Völker dar. In der Jugend bilden sich die zentralen Muster und neuronalen Netze, in denen sich Fühlen und Denken abspielen und wo das Weltwissen und die Welterfahrung der Kinder abgelegt wird. Musikalisch kulturelle Erfahrungen spielen dabei im Zusammenwirken mit anderen Bildungsbemühungen eine wichtige Rolle. Musikalische Förderung folgt somit dem human-ethischen Gebot, angelegte Begabungspotentiale optimal zu fördern.

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