Wednesday 6 December 2006

Kultur und schule - Schule und kultur (German)

"Die Schulen sind Werkstätten der Humanität, indem sie ohne Zweifel bewirken, dass die Menschen wirklich Menschen werden." Comenius Professor Josef Scheidegger President of EAS (European Association for Music in Schools) Dean of Faculty II at Musikhochschule Luzern (CH) Ich möchte einige Gedanken zum Begriff "Kultur" voranstellen. Kultur ist alles, was dem Individuum erlaubt, sich gegenüber der Welt, der Gesellschaft und auch gegenüber dem heimatlichen Erbgut zurechtzufinden, alles was dazu führt, dass der Mensch seine Lage besser begreift, um sie unter Umständen verändern zu können. Der Begriff im Wandel der Zeit: Das Wort “cultura“ bedeutet ursprünglich “Ackerbau“. Cicero sprach dann von der “cultura animi“, der Pflege der Seele, des Geistes. Dieser ursprüngliche, aufeinander zugeordnete Sinn hat sich nach und nach verselbständigt in der “Kultur“ einerseits, als das scheinbar ganz und gar Unnatürliche, und der Zivilisation andererseits. Kultur steht so offenbar in einem Spannungsverhältnis zwischen Lebensnotwendigem und dem Feierabendvergnügen, dem Gradmesser des ökologisch Richtigen, Nützlichen und dem Selbstzweck. Der Stand der kulturellen Entwicklung jedoch kann als Massstab für den Stand der Gesellschaft genommen werden, der Entwicklungsprozess selber als Schule der Demokratie. Die Förderung und Entwicklung der so verstandenen Kultur lag lange Zeit wesentlich in den Händen interessierter reicher und mächtiger Mäzene; die Kultur diente so auch ihrem Schmuckbedürfnis, wurde zu einem Massstab ihrer Macht. Kultur – eine echte, lebendige Aesthetik der Künste - lässt uns nicht in Ruhe. Sie beunruhigt. Eine ausschliesslich gefällige, harmlose Kultur, mit der jedermann einverstanden ist, bleibt belanglos, weil sie keine Auseinandersetzung erzeugt, mit der Zeit nicht mehr wahrgenommen wird, im stets zunehmenden Geräuschpegel untergeht. Überall, wo Dialog, wo Auseinandersetzung, wo Kommunikation entsteht, ist Leben. Wer eine Gemeinschaft am Leben erhalten oder beleben möchte, wird danach trachten, ein grösstmögliches Angebot an Kommunikationsgelegenheiten zu schaffen. Selbst wo Missfallen und Ärger, wo Spannung erzeugt wird, kommen Probleme an die Oberfläche oder lassen sich wenigstens erahnen, es bieten sich Lösungsmöglichkeiten an. Sie ist auch ein Mittel gegen ständig sich ausbreitende Hoffnungslosigkeit und Resignation sowie eines für eine sinnvoll gestaltete Freizeit! Geht man davon aus, dass das Kunst- und Kulturschaffen eine der Ausdrucksformen ist, den Menschen dazuzuführen, dass er seine Lage besser begreift, um sie unter Umständen verändern zu können, dann muss das Infragestellen als Schritt zur Veränderung ermöglicht werden. Alles, was mithilft, das Zurechtfinden und das Begreifen durch Wissen, Neugier, Bewusstsein, durch Auseinandersetzung, Fühlen, Spüren voranzutreiben, heisst Kulturförderung. Kulturförderung muss oft da ansetzen, wo Gefühle, Stimmungen, Befürchtungen in noch unbestimmter Form, noch nicht greifbar sind. Es gilt auch, die sogenannte schweigende Mehrheit zum Reden zu bringen – oft müssen vorerst alle Beteiligten das Reden und Zuhören noch lernen. Eine Spitze braucht eine breite Basis ! Selbst wer sich nur an kulturellen Spitzenprodukten orientiert, muss einsehen, dass die Erschaffung eines jeglichen Spitzenprodukts das Bestehen einer breiten Basis voraussetzt. Förderung des zeitgenössischen Kulturschaffens im engeren Sinne kann verglichen werden mit der Förderung der Grundlagenforschung in der Wissenschaft: Sie ist mühsam, voller Irrwege, oft wenig spektakulär und – Voraussetzung für jeden Fortschritt. Künstlerisch-aesthetische Bildung ist integrativer Bestandteil des gesellschaftlichen Bildungsauftrages. Aus dem Umgang mit dem Wirklichen entwickelt sie Perspektiven für das Mögliche und fördert das individuelle Engagement für ein zukunftsträchtiges Wertekonzept. Darin ist der musikalischen Bildung als Rückhalt gegenüber zunehmender Visualisierung und des deutlichen Nachlassens bewusster auditiver Wahrnehmung ein besonderes Gewicht beizumessen. Inzwischen wissen wir aus Forschungsresultaten in verschiedensten Ländern, dass der intensive Umgang mit Musik in einer Gruppe nicht nur das Musikverstehen, sondern auch die individuelle Leistungsbereitschaft, das Sozialverhalten sowie die Toleranz gegenüber Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft fördert. Oder könnte man die Ziele einer musikalischen Bildung auch so umschreiben: - Ein motiviertes und kundiges Publikum heranzubilden, das sowohl gegenüber neuen kulturellen Erfahrungen aufgeschlossen ist als auch die eigene Kultur als Teil einer gesamteuropäischen Tradition erhalten und weiterentwickeln kann. - Über den Umgang mit Musik und jeglicher Kunst ein leistungsbezogenes und kreatives Verhalten positiv beeinflussen sowie soziale Kontaktfähigkeit und Offenheit für andere Kulturen fördern. - Junge Menschen gegenüber der musikalischen Umwelt und der anderer Künste sowie den Möglichkeiten der Medien mündig machen - Über die Künste mitmenschliche Kommunikation anbahnen, gesellschaftliche und kulturelle Grenzen überwinden und damit auch gesellschaftlichen Tendenzen zur Vereinzelung entgegenwirken. Nun aber zum eigentlichen Kulturschaffen, in dem Musik ein Teil, ein sehr wichtiger Teil ist. Ob wir vielleicht gezielter darauf achten müssten, dass wir vermehrt mit andern Künsten, besonders Kulturschaffenden gemeinsame Wege suchen sollten? Wege könnten sein: - Die kulturellen Aktivitäten stärker in die Bildungsinstitutionen einzubeziehen. Anzustreben ist eine vertiefte und effizientere Einführung in das Kulturgeschehen im Laufe der Schulzeit und während der Berufsausbildung; das Ziel dieser Ausweitung des Bildungsangebotes ist sowohl die Anregung zu eigenen (schulischen und ausserschulischen) kulturellen Leistungen als auch die Ermöglichung des lebenslangen Teilhabens an kulturellen Werten. Sie drängt sich als Gegenpol zu rein materiellen Zielsetzungen auf, als Weg vom Wohlstand zum Wohlbefinden. - Kunst und Kultur sollen vermehrt zum integrierenden Teil des Bildungsangebotes werden, die existentielle Bedeutung der Kultur ist bewusst, einsehbar und erlebbar zu machen. - Kreative Fähigkeiten, Neigungen, kulturelles Interesse sollen aufgespürt, freigelegt und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gefördert werden, insbesondere beispielsweise auch auf Lehrlingsebene (Freifächerkurse). - Es sind feste Kontakte mit Kulturschaffenden zu ermöglichen (Kulturschaffende in die Schule holen und Schule an den Ort des Geschehens/Kulturschaffens führen. - Es sollen Kulturpädagogen eingesetzt werden und museumspädagogische Dienste in Zusammenarbeit mit der Region, dem Lande geschaffen werden. - Die Erwachsenen von morgen sind mit dem Angebot und der Handhabung der zur Verfügung stehenden Infrastrukturen vertraut zu machen. Auf unsere Kinder und Jugendlichen bezogen, meine ich: Kinder und Jugendliche unserer Zeit müssen in ihrer Welt ernstgenommen werden, auch in einer Welt, in der sie sich nicht zuletzt musikalisch oder allgemein künstlerisch eigenwillig ausdrücken. Unsere und die gegenseitige Akzeptanz wird uns erst die Möglichkeit anbieten, die jungen Menschen auch in andere Stilbereiche einzuführen. Maria Spychiger und Markus Cslovjescek formulieren es in einem Heft unter dem Titel “Musik als Unterrichtsprinzip“ so: Das Zusammenspiel von Lernen und Freude, eben auch Freude an der Kunst darf uns immer selbstverständlicher werden. Spiel und Arbeit, Freude und Ernst lassen sich ohne Widerspruch als Einheit begreifen – nur der Ernst im Spiel lässt das Spiel ganz Spiel werden, wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber. In der Musik, in den Künsten stecken unzählige Möglichkeiten, diese Einheit zu erleben bzw. diese in unserer Kultur zu Gegensätzen gewordenen Aspekte wieder zusammenzufügen. Spiel und Musik bereiten Freude und sprechen die Gefühle an. Von Effizienz ist vorerst kaum zu sprechen, eher von Freizeitgestaltung und Zeitvertreib. Aber beim Singen und Spielen, beim Komponieren, Bewegen und allgemein beim künstlerischen Gestalten ist der Verstand genau so im Spiel. Konkretes Tun, der Spass am Spiel, die Freude an der Bewegung und am Rhythmus, die Faszination der Stille, die Geborgenheit in der Ordnung und die Lust am Chaos, das Glück des Gelingens, die Kunst des Fehlermachens, die Bewährung im Üben und Durchhalten, das Wunder des Wahrnehmens können Voraussetzungen für ein echtes künstlerisches Tun sein. Intelligenz ohne Herz zerstört letztlich die Grundlagen des Lebens; und kluge Menschen mit Herz, aber ohne Hand und Handlungsfähigkeit vermögen dies nicht zu verhindern. Pestalozzi Für das Leben lernen heisst tatsächlich Kopf, Herz und Hand bilden, also die Kräfte des Denkens schulen, den Reichtum des Gemüts entwickeln, die Geschicklichkeit der Hände und damit auch Intelligenz und Willenskraft fördern. Wir brauchen - ein intensives Wahrnehmen und sinnenhaftes Erleben und Aufnehmen der Wirklichkeit in ihrem Reichtum von Formen, Farben und Klängen; - gemüthafte Verbindung mit allem, was uns begegnet und betrifft; - herzliche, mitmenschliche Anteilnahme, Fähigkeiten zur Zusammenarbeit; - ganzheitliches Erfassen von Strukturen, sinnvolles Vernetzen von Zusammenhängen; - einen geschulten Verstand; aber ebenso unentbehrlich sind Intuition, Kreativität, Einfallsreichtum (Phantasie) und Beweglichkeit sowie die Fähigkeit, Probleme originell zu lösen. Vielleicht gelingt es dann auch wieder, staunen zu können. Am Anfang jeder menschlichen Kulturleistung steht das Staunen. Das gilt für jede Art von Kunstfertigkeit so gut wie für Wissenschaft und Forschung und ganz gewiss auch für das Handwerk. Um es nochmals festzuhalten: Bildung braucht gute Weile! Wer Halme ausreisst, um vorzeitig zu ernten, verhindert das Reifen der Frucht. Bildungsprozesse benötigen Zeit, gute Weile: Schule muss auch Ort der Musse, der Langsamkeit sein, mit Zeiten der Stille, mit Pausen, verweilendem Üben und sicherndem Wiederholen. So könnte sich vielleicht der Wunsch von Johann Amos Comenius, einem Pädagogen aus dem Barock, doch noch erfüllen: “Die Schulen sind Werkstätten der Humanität, indem sie ohne Zweifel bewirken, dass die Menschen wirklich Menschen werden.“

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