Wednesday, 6 December 2006
Wozu Musik? (German)
Hans Zender
Deutscher Komponist und Dirigent
Wozu Musik? – Wozu anders als um jedes “Wozu“ aufzuheben?
Unsere linke Gehirnhälfte, unsere rechte Gehirnhälfte – sie wenden alle Kraft daran, das “Außen“ vom “Innen“ zu trennen; sie haben die “Absichten“ erfunden und die “Gründe“, sie versklaven uns, indem sie die äußere Welt als ein kompliziertes Gefüge von Einzeldingen erscheinen lassen, und unsere Innenwelt als ein Chaos von Stimmungen und Meinungen eines aufgeblähten Popanz namens “ICH“ ....
Wir messen und wägen, wir bilden Urteile und Vorurteile, wir werten das, was uns begegnet, nach dem Nutzen oder Schaden, den es für uns bringt. In unserem Kopf entstehen zwei neue “Welten“ – und entfernen uns immer weiter von der Einheit mit allem, in der wir einmal lebten (wann? wo? als Baby? als Embryo? als Urzelle?): auf der einen Seite die Zahlen und die Zahlenbeziehungen, auf der andern die Worte, die Begriffe. Statische Kopfwelten, Kristallisierungen unserer Intelligenz; doch welche Form unserer geistigen Tätigkeit versetzt uns in das Zentrum des Daseins, und artikuliert die tiefste Erfahrung, die wir als der Zeit unterworfene, sterbliche Wesen machen können: die der Bewegung, des Fließens?
Musik bewegt sich in dieser mittleren Region unseres Geistes; sie bringt diese Region mit hervor: jenen Bereich, der gleich weit vom Denken in Zahlen und vom Denken in Worten entfernt ist. Deswegen saß die Musik im Mittelalter auf einem Thron, der genau im Mittelfeld der “freien Künste“ stand: zwischen Dialektik, Rhetorik und Grammatik auf der rechten, und Astronomie, Geometrie und Arithmetik auf der linken Seite. Die Neuzeit hat sie von ihrem Thron gestoßen und auf beiden Seiten des leeren Thrones Berge von spezialisiertem Wissen angehäuft, die so hoch geworden sind, dass das Ganze nicht mehr überschaubar ist, und der mittelpunktslose Geist sich selbst und alles übrige in Zweifel ziehen muss.
Wer kann ihm helfen, dem neurosegeplagten, ideologieanfälligen, Körper und Geist nicht mehr zusammenbringenden “modernen Menschen: - Ist es nicht seltsam, dass die europäische Neuzeit gleichzeitig mit ihrer den Menschen immer mehr fragmentierenden Wissenschaft eine Musik hervorgebracht hat, die eine bisher nie erreichte Dichte des Ausdrucks wie der Form zeigt? Handelt es sich hier nicht um die Entwicklung einer kompensierenden Kraft gegenüber der Einseitigkeit, in die uns die wissenschaftlich-technische Zivilisation gebracht hat? In der Konkretheit ihres den Menschen rhythmisch treffenden Klanges durchbricht die Musik die Barrieren der Abstraktion; sie packt gleichzeitig Körper und Geist, verbindet so den Kopf mit dem Rumpf, aber auch die rechte Seite mit der linken. Denn wie selbstverständlich nimmt sie das Zahlendenken wie das Sprachdenken in ihren Dienst: die Zahlen, indem sie Tonhöhen und Dauern in den komplexesten Konstruktionen ordnet; die Sprache, indem sie sich dem Ohr nicht in leblosen Mustern, sondern in der organischen Gestalt expressiver “Rede" präsentiert – ob sie jetzt die Phoneme der Worte in ihre Form einbezieht oder nicht. Indem sie so die Zahlenwelt und die Sprachwelt verbindet, befreit sie uns gleichzeitig von den Ansprüchen auf absolute Beherrschung, die sowohl die linke wie die rechte Seite an uns stellen.
Denn das Denken der Musik bezieht sich weder auf eine (angebliche) Außenwelt noch auf eine (angebliche) Innenwelt, sondern nur auf sich selbst; es bedeutet nichts außer sich selbst. Es ist “Denken pur“, es ist reine geistige Intensität, die keinen Unterschied zwischen innen und außen, Objekt und Subjekt kennt, und deswegen auch kein “Wozu“. Sie kennt nur eines: die Bewegung. Ihre Intensität bestimmt sich in jedem Moment neu, und frei; diese sich ständig erneuernde Bewegung ist ihre Dynamik. In der Teilnahme an dieser nicht gegenstandsgebundenen Intensität lässt sie uns unsere Freiheit als schöpferische Kraft erfahren; lässt sie uns unsere Existenz als freien Flug erfahren.
Alles das gilt nur für die Musik in ihrer vollkommenen Gestalt, nicht für Kitsch, nicht für Serienprodukte, nicht für den ganzen Tineff, von dem wir umgeben sind. Wie entsteht eine solche “vollkommene" Gestalt? Sie entsteht, wenn die Individualität eines schöpferischen Menschen ganz mit dem Kern einer Epoche verschmilzt; sie entsteht, wenn Form und Ausdruck eine Einheit bilden. Wenn eine solche Musik erklingt, entsteht sowohl für die Spieler wie für die Zuhörer eine merkwürdige Art der Geborgenheit. Solang sie andauert: Friede, ohne Entzweiung! Wie in einem Vogelschwarm vielleicht (denn verglichen mit dem mühsamen “Schritt-für-Schritt“ des Zählens, des Sprechens – man hat es “hinkendes Denken“ genannt – erscheint die Musik als ein Fliegen). Beim Spielen wie beim Hören von Musik muss die Konzentration so groß sein, dass keine Energie mehr frei ist, um über den Rand des Klanggeschehens hinauszudringen. Wer hier nicht vergißt, wie er heißt – wo er ist – was er tut, kann nie erfahren, was Musik ist. Sie ist keine Droge (eine schöne Droge: der Konsum schwingender Luftpartikel – “swinging air“! Yeah! Sie macht uns high, aber in einer Sekunde können wir wieder herunter), sie ist auch keine “Heilslehre“ – überhaupt keine “Lehre“, sondern eine Praxis. Genau in der Mitte des Geistes: da, wo der Geist keinen Schatten wirft – da entsteht die Musik. Da, wo man gleichzeitig produktiv und empfangend ist. Und da gibt es kein "“Wozu“. “Wozu Musik“? – “Wozu leben?“
Die kleinen grauen Männer, sie wollen uns wegkürzen; uns abschaffen, am besten gleich zusammen mit der Natur, die heute auch nicht mehr so wichtig ist, verglichen mit dem Euro oder dem Bruttosozialprodukt. (Ja, ich weiß, es gibt auch Musiker, die vor lauter Getue und Ruhm und Gage längst vergessen haben, was Musik ist. Aber die andern?) – Leute, kommt in unsere Konzerte, eure Hirnmuskeln werden es euch danken; euer ganzer body wird es euch danken. Erklärt den grauen Männchen, dass der Geist Glück braucht, um gesund zu sein; nicht nur “so ein bisschen happy“ wollen wir sein, um uns als ganze Menschen zu fühlen, sondern komplett glücklich. In der chinesischen Schrift sind die Zeichen für “Musik“ und “Freude“ identisch. Die Glücksforscher (so was gibt es heute tatsächlich auch!) haben herausgefunden, dass Glück fast ganz auf Selbstprogrammierung beruht (und diese wiederum auf disziplinierter harter Arbeit). Programmiert euren Geist mit Bach und Mozart, mit Webern und Messiaen, und vergesst nicht, ihn ab und zu auch frei fliegen zu lassen!
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